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26.02.2022 Kategorie: Pfarrverband

Erforschung einer Speerspitze

Steinzeitliche Geheimnisse

Im Jahr 1983 fand der Wendeburger Landwirt Heinrich Helms beim Kartoffelroden auf der Kuppe des Steinklints zwischen Wendeburg und Rüper eine knapp 8 cm lange steinerne Spitze. Das schöne, auf beiden Seiten flächig bearbeitete, schokoladenfarbene Stück wurde bald darauf der Kirchengemeinde Wendeburg geschenkt. Der damalige Pastor Otto Pfingsten brachte es in einer kleinen Vitrine im Erdgeschoss des Kirchturms der Dorfpfarrkirche unter, wo es 35 Jahre lang für Kirchenbesucher zu sehen war.

Angesprochen wurde die Spitze damals als jungsteinzeitlicher bis frühbronzezeitlicher Flintdolch aus der Zeit von 2300 bis 1700 v. Chr. Dies ist die übliche Deutung für dünne und flächig „bifazial“ bearbeitete Steinspitzen. Es handelt sich um perfekt bearbeitete steinerne Nachahmungen der damals in Mitteleuropa aufkommenden triangulären Kupferdolche. Aus Mangel an dem Metall wurde der in Nordeuropa, einschließlich Norddeutschlands, sehr gut verfügbare nordische Flint, sprich Feuerstein, verwendet. Dass die Wendeburger Spitze aufgrund der unregelmäßigen Basis gar kein typischer Flintdolch ist, fand damals keine große Beachtung. Tatsächlich gibt es auch leicht fehlgestaltete oder nach einem Bruch notdürftig wiederhergerichtete Exemplare.

Anfang 2018 erschien ein wissenschaftlicher Artikel über spätmittelpaläolithische „Blattspitzen“ der so genannten „Blattspitzengruppe“ (Spätphase der mittleren Altsteinzeit, 50.000 bis 35.000 v. Chr.), Dadurch angeregt, fiel dem Peiner Archäologen Thomas Budde auf, dass es sich bei dem Wendeburger Artefakt eventuell gar nicht um einen Flintdolch, sondern eine Speerspitze der Blattspitzengruppe handeln könnte. Dies ist in der hiesigen Archäologie überhaupt die einzige in Frage kommende Alternative. Der Wendeburger Pastor Frank Wesemann stellte das Fundstück spontan für wissenschaftliche Untersuchungen zur Verfügung.

Der erste Aha-Effekt war sogleich, dass es sich bei dem Rohmaterial gar nicht um nordischen Flint handeln kann, sondern um ein anderes Silikatgestein (Silex). Durch eine petrographische Untersuchung am Leibnitz-Institut in Hannover steht inzwischen fest, dass die Speerspitze aus einer Chalzedon-Art besteht, deren Herkunft noch unbekannt, aber nicht im Norden zu suchen ist. Dies spricht stark gegen eine Deutung als Flintdolch. Aber auch die Herausbildung der Basis mit dem bewusst schräg herausgearbeiteten Schaft spricht gegen einen Dolch. Der Griffansatz für Flintdolche lag naturgemäß mittig. Es wurde eine symmetrische Form angestrebt. Für den schrägen Schäftungsansatz konnten Vergleichsstücke aus der Blattspitzengruppe vor allem in Hessen, vereinzelt auch in Ostwestfalen und Südniedersachsen gefunden werden. Auch die eher grobe Bearbeitung der Rückseite ist untypisch für die meist perfekt gefertigten Flintdolche, kann aber im Mittelpaläolithikum vorkommen.

Umfangreiche Forschungen setzten ein. Im Ergebnis steht heute vor allem fest, dass es sich um ein hierzulande sehr seltenes, ungewöhnliches Artefakt handelt. Die meisten konsultierten Archäologen legen sich daher nicht fest. Doch gibt es nur diese beiden Möglichkeiten. Für Thomas Budde sprechen die weitaus besseren Argumente für eine Datierung in das späte Mittelpaläolithikum. Er fasste seine Ergebnisse jüngst in der Zeitschrift „Braunschweigische Heimat“ (Heft 3/2021, S. 24-31) zusammen. Wenn dies zutrifft, handelt es sich um eine Speerspitze des späten Neandertalers, die vermutlich bei der saisonalen Jagd von einem Jägernomaden im Sommer weit in den Norden mitgebracht worden ist, als die letzte Eiszeit (Weichsel-Kaltzeit) hier bereits für ein menschenfeindliches Klima gesorgt hat. Es gab allerdings selbst zur Zeit des Kältemaximums Temperaturschwankungen, die einen Aufenthalt von Jägernomaden in der wildreichen Tundra gut möglich erscheinen lassen. Sollten sich in Zukunft Ansätze für eine andere Deutung des Stückes finden, wären diese am besten in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift gegenüberzustellen. Es kann durchaus Jahrzehnte lang dauern, bis eine endgültige Lösung gefunden ist, wie immer, wenn ungewöhnliche steinzeitliche Funde erstmals auftauchen. Momentan spricht aber alles für die gefundene Deutung.

Die Speerspitze war zwecks fachlicher Beurteilung ausgeliehen, jetzt ist sie zurück in Wendeburg. Das Foto ist anlässlich der Rückgabe aufgenommen worden. 

Die Speerspitze. Fotos: Privat

v. l.: Gemeindeheimatpfleger Rolf Ahlers, Archäologe Thomas Budde, Pastor Frank Wesemann

Beitrag von Thomas Budde M.A.