Im täglichen Bibelleseplan von Alpha las ich von dieser Begebenheit: In seinem Buch, The Vision. Der Herzschlag der Gnade, erzählt Pete Greig von einem renommierten Kunstkritiker, der in Londons Nationalgalerie vor einem Werk Filippino Lippis stand. Etwas an dem Gemälde aus dem 15. Jahrhundert irritierte ihn. Es zeigt Maria, die den kleinen Jesus auf dem Schoß hält, den heiligen Dominik und den heiligen Hieronymus kniend daneben. Es gab keinen Zweifel an der Kunstfertigkeit Lippis, dem Einsatz der Farben und der Komposition des Bildes, aber die Proportionen schienen nicht zu stimmen. Die Hügel im Hintergrund wirkten übertrieben groß, schienen förmlich aus dem Rahmen zu fallen. Die beiden knienden Heiligen sahen irgendwie unbeholfen und unbehaglich aus.
Der Kunstkritiker Robert Cumming war nicht der erste, der Lippis Werk wegen seiner schlechten perspektivischen Darstellung bemängelte, aber möglicherweise ist er der letzte. Denn in diesem Moment hatte er eine Offenbarung. Ihm wurde plötzlich klar, dass das Problem möglicherweise beim Betrachter liegt. Das Gemälde war nicht geschaffen worden, um in einer Galerie zu hängen, sondern es war für einen Ort des Gebets in Auftrag gegeben worden.
Der hochgeschätzte Kunstkritiker kniete in aller Öffentlichkeit vor dem Gemälde nieder und entdeckte, was Generationen von Kritikern vor ihm verborgen geblieben war. Von seinem veränderten Blickwinkel aus sah Robert Cumming auf ein perfekt proportioniertes Werk. Der Vordergrund verschmolz auf natürliche Weise mit dem Hintergrund, die Heiligen ruhten in sich – nichts Unbehagliches haftete ihnen oder dem Gemälde mehr an. Maria sah ihm mit intensivem Blick direkt in die Augen, wie er zwischen den Heiligen Dominik und Hieronymus vor ihr kniete.
All die Jahre hatte es nicht an der Perspektive des Bildes gelegen, sondern an der Perspektive des Betrachters. Der demütig kniende Robert Cumming entdeckte eine Schönheit, die der stolze Kunstkritiker Cumming nicht hatte sehen können. Das Gemälde erwacht nur für den Betenden zum Leben. Die richtige Perspektive ist eine anbetende Haltung.
Ein Blickwechsel, ein anderer Blick auf dieselbe Sache kann manchmal hilfreich sein, um neue Aspekte zu entdecken und wahrzunehmen: Ein neuer Blick auf das Leben, bestimmte Probleme, persönliche Prioritäten und zahllosen Ziele kann helfen, das eigene Leben zu entschleunigen, neu zu gewichten und demütig dankbar anzunehmen. Solch ein Perspektivwechsel kann in der freien Zeit von Urlaub und Ferien geschehen. Manchmal gehen einem aber auch ganz plötzlich und unerwartet die Augen auf für das, was im Leben eigentlich wichtig ist – und dafür, was Gott damit zu tun hat. Vielleicht verändert sich nach solch einer eindrücklichen Erfahrung unser Verhalten, weil sich unsere Haltung verändert hat: Weg von unserer kompletten Ich-Bezogenheit hin zur demütig-anbetenden Gottbezogenheit, die die Kraft hat, unser ganzes Leben zu erneuern.

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