Stell dir einen feierlichen Anlass vor, zu dem du eingeladen bist. Es sind schon viele Gäste da und unterhalten sich angeregt in ihren kleinen vertrauten Grüppchen miteinander. Die freundliche Bedienung drückt dir ein Sektglas in die Hand und nun stehst du da. Allein in der Menge. Da du weißt, dass das nicht der Sinn deines Besuches sein kann, drängelst du dich einfach in das nächste Grüppchen hinein, hältst ein wenig Smalltalk und merkst, dass du irgendwie nicht dazu gehörst. Also suchst du auf den Karten auf den Tischen nach deinem Namen. Dann stellst du dich sichtbar ansprechbereit dahin, wo die anderen Gäste auf der Suche nach ihren Plätzen vorbeikommen müssen. Aber niemand kommt auf dich zu und spricht dich an. Es ist, als würden dich die anderen gar nicht sehen. Sie sehen dich einfach nicht.
Xavier Naidoo brachte dieses unfassbar verletzende Gefühl vor vielen Jahren in einem bewegenden Liebeslied zu Gehör. Da heißt es: „Wenn sie vorbeigeht, dann scheint es wie ein Feuerwerk / Vor einem Himmel ist es sie, die ich bemerk' / Ihrer Königlichkeit ist nur ein König wert / Ein anderer als ich / Ich bin wenig königlich / Sie sieht mich einfach nicht.“
Es tut immer weh, übersehen zu werden. Schüler beklagen sich, wenn der Lehrer ihre Leistung nicht sieht. Im Sport übersieht der Trainer das Talent der jungen Spielerin. Ehepartner fühlen sich vom Gegenüber nicht gesehen, und manche Arbeitnehmer fühlen sich vom Chef übersehen. Und wer übersehen wird, wird auch schnell übergangen.
Wer diese Erfahrung zu oft machen muss, landet bald in der Wüste der Einsamkeit. Er badet in Selbstmitleid und Verzweiflung und merkt, wie Mut, Hoffnung, Wille und Gefühle vertrocknen und verdorren.
So ging es einmal auch einer Frau mit Namen Hagar (nachzulesen in 1. Mose 16). Sie hatte nur ihre Pflicht getan und musste trotzdem die Flucht ergreifen. Sie sah keinen anderen Ausweg mehr. Da saß sie nun in der Wüste. Sie hatte Wasser, aber keine Perspektive. Sie war einsam und allein, sie sah nur sich und ihre Not, aber niemand sah nach ihr. Bis ein Engel Gottes kommt und sie mit warmen Worten zur Rückkehr bewegt. Der Brunnen, an dem sie saß, heißt seitdem „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht.“ Weil sie erkennt, dass Gott sie auch in ihrem Leid, in ihrer Einsamkeit, in ihrer Hoffnungslosigkeit sieht, richtet sie ihren Blick auf Richtung Zukunft.
Die beste Botschaft für das neue Jahr lautet: Gott sieht dich. Nein, er sieht dich nicht als Überwacher und Ordnungshüter, der jeden deiner Schritte überwacht und nur auf einen Fehltritt wartet, um dir eines auszuwischen. Er sieht dich als dein dich liebender Vater. Er sieht dich als dein Nachhausebringer, dein Versorger, dein Heimatgeber, dein Freund und Helfer. Alles ändert sich, wenn du weißt: Gott sieht dich. Er ist immer für dich da. Er übersieht dich nicht. Du bist ihm so wichtig, dass er ein Auge auf dich wirft. Er sieht dich, wenn du von anderen und deinen eigenen Ansprüchen zerrieben wirst, wenn du dich zerreißt zwischen Beruf und Familie, Kinder und Eltern. Er sieht deine bröckelnde Hochglanzfassade. Er sieht dich, wenn du allein und ungeschminkt echt bist. Und selbst dann sieht er nicht weg. Er übersieht dich nicht. Weil du ihm wichtig bist. Das gilt heute und auch für jeden Tag des neuen Jahres, das Gott uns schenkt.

Foto: Grae Dickason / www.pixabay.com